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Die Gentechnik ist eine junge Wissenschaft, in der die Forschung rasante Fortschritte macht, besonders in der Anwendung. Mit der Entwicklung der neuen gentechnischen Verfahren (NGT) wie Crispr/Cas hat sich das Tempo noch einmal deutlich erhöht. Regelmäßig melden die Medien neue Eingriffe in das Erbgut von Pflanzen und Tieren und beschreiben sie als Lösung von Problemen wie Hunger und Klimawandel. Die möglichen Risiken und Folgen dieser Technologie in der Landwirtschaft stehen dagegen kaum im Fokus der Forschenden und ihrer Geldgeber. Das könnte sich als fatal erweisen. Denn wer nicht sucht, findet auch nichts – selbst dann nicht, wenn es da ist. Zudem muss eine Gesellschaft die mit einer neuen Technologie verbundenen Risiken erforschen und bewerten. Denn nur dann kann sie diese auch angemessen managen, etwa indem sie Regeln festlegt, wie mit dieser Technologie und ihren Produkten umzugehen ist.
Contergan, Asbest, Facebook: Die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte kennt zahlreiche Beispiele, bei denen die mit bestimmten Arzneimitteln und Baustoffen oder neuen Technologien verbundene Risiken nicht oder nicht angemessen abgeschätzt und deshalb viel zu spät erkannt wurden. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelte sich das Vorsorgeprinzip als Leitlinie der Umweltpolitik in Deutschland und der EU. Es verlangt, dass bei neuen Technologien mögliche Risiken erst erforscht und dann bewertet und gemanagt werden. Fehlt es an der Risikoforschung, wird das Vorsorgeprinzip ausgehebelt und quasi durch das "Prinzip Hoffnung" ersetzt: Es wird hoffentlich nichts passieren. Bei der Agro-Gentechnik führte das Vorsorgeprinzip in der EU zu einem strengen Zulassungsrecht, mit dem die potentiellen Risiken dieser Technologie gemanagt werden. Ein wesentlicher Punkt für diese Entscheidung war, dass einmal freigesetzte gentechnisch veränderte Organismen nicht oder nur mit einem extrem hohen Aufwand zurückgeholt werden können, sollten sie sich als schädlich herausstellen. Mit Verweis auf das Vorsorgeprinzip hat der Europäische Gerichtshof 2018 verlangt, dass auch Produkte aus neuen gentechnischen Verfahren einem strengen Zulassungsverfahren unterworfen werden müssten. Damit begann eine erneute und andauernde Debatte darüber, inwieweit das Vorsorgeprinzip Innovationen behindert, wie mit Nichtwissen und Unsicherheiten umzugehen ist und welche Risiken bei einer neuen Technologie zu betrachten sind. Eine Debatte, die die Gentechnik von Anfang an begleitete.
Als Geburtsstunde der Gentechnik gilt das 1973 entstandene erste gentechnisch veränderte Bakterium. Die ersten Molekularbiolog*innen waren sich der Risiken ihrer neuen gentechnischen Werkzeuge durchaus bewusst. Bereits Mitter der 70er Jahre brach der spätere Nobelpreisträger Paul Berg seine Versuche in Stanford ab und plädierte für einen vorläufigen Forschungsstopp, dem sich andere Forschende anschlossen. Diesem selbst auferlegten Moratorium folgte eine Konferenz im kalifornischen Asilomar. Dort einigten sich 140 führende Wissenschaftler*innen 1975 auf Sicherheitsrichtlinien für die Labore. Zudem beschlossen sie, dass Versuche mit Krebsviren und anderen hochpathogenen Mikroorganismen sowie die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen vorerst tabu wären. Daraufhin endete das Moratorium.
Die Konferenz war der Versuch der Forschenden, ihre Arbeit selbst zu regeln. „Wir wollten nicht, dass unsere Experimente von übermäßig selbstsicheren Juristen oder selbsternannten Bioethikern, die kein fachspezifisches Wissen und kein Interesse an unserer Arbeit hatten, blockiert würden“, fassten zwei Teilnehmer im Rückblick die Stimmung zusammen.
Soraya de Chadarevian: Asilomar – ein Moratorium und was daraus geworden ist (2005)
Der Versuch scheiterte, denn schon bald entstanden erste behördliche Richtlinien, zuerst in den USA, später in Europa. In Deutschland beschäftigte sich eine Enquetekommission des Bundestages von 1984 bis 1987 mit den Chancen und Risiken der Gentechnik .1990 verabschiedete die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ihre ersten Richtlinien zur Arbeit in Laboren und zur Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO). Deutschland setzte die Vorgaben im gleichen Jahr in einem ersten Gentechnikgesetz um. Diese Regelungen sollten Mensch und Umwelt vor schädlichen Auswirkungen der Gentechnik schützen, gleichzeitig aber einen rechtlichen Rahmen für deren Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung schaffen.
BGF biotech_gm_food: 30 Jahre europäische Gesetzgebung zur Bio- und Gentechnik
In den 80er Jahren kam zur medizinischen (roten) und biotechnologischen (weißen) Gentechnik ein weiterer Forschungsbereich hinzu, die Agrogentechnik (grün). Mit der Vermarktung erster gentechnisch veränderter (gv) Pflanzen ab 1996 gewann sie schnell an wirtschaftlicher Bedeutung. Bestimmt wurde und wird die Agrogentechnik von wenigen großen Agrarkonzernen wie Monsanto (heute Bayer), Bayer selbst, Corteva und BASF sowie kleinen Startups meist aus dem universitären Bereich. Der Staat leistete mit Forschungsförderung einen wichtigen Beitrag. So förderte etwa das Bundesforschungsministerium von 1999 bis 2014 mit seinem Programm GABI die Erforschung von Pflanzengenomen mit 140 Millionen Euro. An fast 40 Prozent der Projekte – oft anwendungorientierte – waren Unternehmen als Partner beteiligt. Sie profitierten auch von der mit GABI finanzierten Grundlagenforschung, zu der etwa die Entschlüsselung des Gerste-Erbguts zählte. Auch in den darauffolgenden Jahren flossen Millionen an Forschungsgeldern in diesen Bereich.
Parallel dazu begann die Freisetzung von gv-Pflanzen: Allein im Zeitraum von 1997 bis 2004 wurden in Deutschland rund 100 Feldversuche mit gv-Pflanzen genehmigt. Parallel dazu wurden die ersten gv-Pflanzen für den Anbau in der EU zugelassen. Damit stieg das Interesse an der Erforschung der mit diesen Freisetzungen verbundenen Risiken. Das Bundesforschungsministerium lobte sich 2014, es habe bis dahin „mit mehr als 100 Millionen Euro über 300 Vorhaben der biologischen Sicherheitsforschung gefördert, davon über 140 Projekte zur Sicherheitsbewertung gentechnisch veränderter Pflanzen“. Allerdings seien diese Projekte nicht an Sicherheitsbewertungs- und Zulassungsverfahren ausgerichtet gewesen, schrieb das Ministerium an anderer Stelle. Im Vordergrund hätten Methodenentwicklung und Umweltwirkungen von gv-Pflanzen gestanden.
Aus Sicht der Umweltverbände ging das Geld des BMBF großteils „in Projekte, die die Technologien der Genübertragung weiter perfektionieren sollen, ebenso wie in das als PR-Maßnahme angelegte Kommunikationsmanagement. Eine systematische Risikoanalyse zu Freisetzungen und Monitoring der Folgen für Mensch, Natur und Umwelt ist völlig untergewichtet“. So steht es in dem Positionspapier „Risiken der Agrogentechnik untersuchen“ von 2009. Darin verlangten die Umweltverbände, sozioökonomische Aspekte zu erforschen und Kosten-Nutzen-Überlegungen anzustellen. Sie kritisierten „eine unzureichende finanzielle Ausstattung zur Erforschung existierender Risiken, eine fehlende Standardisierung der zentralen Messmethoden sowie einen mangelnden Zugang zu Versuchsmaterial für unabhängige WissenschaftlerInnen“
An dieser Situation hat sich seither nichts geändert. Im Gegenteil: Mit dem Aufkommen neuer gentechnischer Verfahren (NGT) wie Crispr/Cas wiederholte sich das Vorgehen von der klassischen Gentechnik. Bund und Länder förderten die Erforschung und Anwendung neuer gentechnischer Verfahren in den letzten Jahren mit zusammengezählt mehr als 100 Millionen Euro, während mögliche Risiken weitgehend außen vor blieben. Auf dem Portal Pflanzenforschung.de findet sich ein
Überblick über laufende und abgeschlossene Förderprogramme.
Informationsdienst Gentechnik: Bundesregierung investiert Millionen in Genome Editing (11.03.2019)
Die Erforschung von Nachweismethoden für neue gentechnische Verfahren kommt nur schleppend voran und leidet darunter, dass die Gentechnikunternehmen kein Referenzmaterial zur Verfügung stellen und dies selbst bei staatlicher Förderung nicht müssen.
Martin Häusling: Neue Gentechnik - Mehr Forschung in Risiken und Nachweisverfahren investieren! (08.02.2022)
Informationsdienst Gentechnik: Neue Gentechnik: viele Ansätze für Nachweis (23.03.2023)
Informationsdienst Gentechnik: EU gibt elf Millionen Euro für Nachweisforschung (17.03.2024)
Bei der klassischen Agro-Gentechnik war nicht strittig, dass es potentielle Risiken gibt. Die Kontroverse drehte sich vor allem um deren Bewertung und das Management. Bei den neuen gentechnischen Verfahren (NGT) ist das anders. Hier behaupteten die Wissenschaftler*innen, die mit NGT arbeiten, von Anfang an, dass die Technik sicher sei. Zudem seien - solange damit nur das Erbgut wie bei Mutationen verändert werde und kein fremdes Erbgut eingefügt werde - auch die Produkte so sicher wie Pflanzen aus konventioneller Züchtung. Diese Annahme wurde als wissenschaftlicher Konsens definiert und jede Kritik an dieser Hypothese als unwissenschaftlich abgetan. Beispielhaft dafür:
Nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina: Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU (2019)
Testbiotech: Zweifelhafte Umstände bei Veröffentlichung der Stellungnahme der Leopoldina zur ‚Neuen Gentechnik‘ (05.12.2019)
Tatsächlich aber gibt es diesen Konsens nicht, wie zahlreiche Veröffentlichungen von Wissenschaftsorganisationen wie Ensser und GfÖ und behördlichen Risikobewertungen von Anses oder BfN zeigen. Sie lehnen mit wissenschaftlich belegten Argumenten die von der EU-Kommission geplante Verordnung ab, mit der für die meisten NGT-Pflanzen eine Risikobewertung vor der Vermarktung weggefallen wäre.
Ensser-Stellungnahme: Der Vorschlag der EU-Kommission zu neuen GV-Pflanzen ist unwissenschaftlich und verschleiert deren Risiken (19.10.2023)
Anses: Opinion on methods for assessing the health and environmental risks and socio-economic issues associated with plants obtained using certain new genomic techniques (NGTs) (Januar 2024)
Bundesamt für Naturschutz, BfN: Studie zur Auswirkung des Verordnungsentwurf der EU-Kommission zu neuen genomischen Techniken in Bezug auf Pflanzen in der Entwicklung (30.11.2023)
Gesellschaft für Ökologie, GfÖ: New genomic techniques from an ecological and environmental perspective: science-based contributions to the proposed regulations by the EU Commission (17.12.2023)
Die neue Gentechnik wirkt sich nicht nur auf Umwelt und Gesundheit aus, sondern auf zahlreiche andere Bereiche wie Biodiversität, Züchtung oder Wirtschaftsmacht. Deshalb fordern mehrere Organisationen eine umfassende Technikfolgenabschätzung.
Testbiotech: Agro-Gentechnik - zwischen hohen Erwartungen und komplexen Risiken (März 2023)
Verbraucherzentrale Bundesverband: Neue Gentechnik, neue Risiken (08.11.2022)
Die Schweiz hatte sich in den Jahren 2005 bis 2012 an einer solchen Abschätzung versucht. Doch auch deren Ergebnisse waren wie die gesamte Agro-Gentechnik umstritten. Eine Erklärung, warum das so sein könnte, liefert das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) in einer aktuellen Studie. Es betont, dass die befürchteten sozioökonomischen Entwicklungen im Agrar- und Lebensmittelsektor (Konzentration, Patentierung, Monopolisierung, Ausbeutung) den stärksten Anlass zu Kritik und Ablehnung neuer gentechnischer Verfahren bieten. Dabei gehe es vor allem um „Weltbilder, gesellschaftliche Zielstellungen, Gerechtigkeits- und andere Bewertungsfragen“. Diese Wertekonflikte hätten bisher eine Konsensfindung verhindert und seien mit naturwissenschaftlichen Ansätzen auch nicht zu lösen.
Schweizer Allianz Gentechfrei: Synthesebericht NFP 59 - Anbaustopp für Gentech-Pflanzen weiterhin gerechtfertigt (28.08.2012)
TAB: Der gesellschaftliche Umgang mit Nichtwissen bei wissenschaftlichen explorativen Experimenten (April 2022, Seite 135)
Die Risikobewertung gentechnisch veränderter Pflanzen und Tiere wird sehr oft von Forschenden beeinflusst oder in ihrer Rolle als Behörden-Expert*innen sogar ausformuliert. Immer wieder thematisieren zivilgesellschaftliche Organisationen mögliche Abhängigkeiten. Denn viele dieser Forschenden arbeiten eng mit Gentechnikunternehmen zusammen oder halten selbst Patente in diesem Bereich, haben also finanzielle Interessen.
In der politischen Auseinandersetzung hat sich dafür der Begriff Gen-Filz eingebürgert. Besonders relevant sind solche Interessenkonflikte dann, wenn es um Risikoforschung geht. Die EU hat in den Jahren 2011 bis 2018 insgesamt 20 Millionen Euro für Forschungsprojekte ausgegeben, die sich mit dem Risiko gentechnisch veränderter Pflanzen befassten – und fast immer von industrienahen Expert*innen geleitet wurden.
Testbiotech: Der Einfluss der Gentechnik-Industrie auf aktuelle EU-Forschungsprojekte zu gentechnisch veränderten Pflanzen (09.11.2015)
„Wenn wir als Gesellschaft Risiken und Potenziale der Neuen Gentechnik abschätzen können wollen, müssen wir eine unabhängige Risikoforschung ermöglichen“, schrieb das Bundesumweltministerium 2021 und stellte fest, dass diese kaum existiere. Wie „eine solche vorsorgeorientierte, nicht interessengeleitete Risikoforschung“ finanziert werden könnte, hat die Rechtsanwältin Cornelia Ziehm schon 2017 dargestellt. Ihr Vorschlag: Der Staat soll von den Unternehmen, die Stoffe und Produkte im Bereich der Gentechnik herstellen oder handeln, eine zweckgebundene Abgabe erheben. Da die Politik darüber erst gar nicht diskutiert, sind es weiterhin vor allem private Stiftungen, die sich hier engagieren und unabhängige Risikoforschung ermöglichen.
Bundesumweltministerium: Positionspapier zum Thema Gentechnik in der Landwirtschaft - Für Wahlfreiheit und Vorsorgeprinzip (27.04.2021)
Cornelia Ziehm: Modelle zur Finanzierung vorsorgeorientierter Risikoforschung im Bereich der Gen- und Biotechnologie (April 2017)
Stiftung Gekko: Unabhängige Risikoforschung (Webseite aufgerufen im Oktober 2023)
Die Stiftung Gekko finanziert auch dieses Portal mit.