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Die Europäische Union bestimmt mit ihren Regeln viele Bereiche unseres Alltag. Dazu gehört auch die Frage, welches Essen auf den Tisch kommt und ob da Gentechnik drin ist. Diesen Aspekt regelt das EU-Gentechnikrecht. Die EU-Kommission würde diese 20 Jahre alten Regelungen gerne ändern, damit mit neuen gentechnischen Verfahren wie Crispr/Cas hergestellte Pflanzen schnell auf den Markt kommen können. Die laufende Debatte darüber zeigt, quasi in Echtzeit, wie Gesetze in der EU entstehen und welche Bedeutung Lobbyisten dabei haben. Sie sind es, die mit ihren Argumenten den Kurs der Kommission wesentlich beeinflussen.
In der EU hat ausschließlich die EU-Kommission das Recht, Vorschläge für Verordnungen oder Richtlinien zu entwickeln und in den Gesetzgebungsprozess einzuschleusen. Sie kann dabei aus eigenem Antrieb tätig werden oder auf Bitten von anderen EU-Gremien. Verordnungen regeln einen Bereich detailliert und sind direkt verbindlich. Richtlinien geben einen Rahmen vor, den die Mitgliedsstaaten in einer vorgegebenen Zeit, meist zwei Jahre, umsetzen müssen.
Wer also will, dass die EU ein Thema auf bestimmte Art und Weise regelt, muss als erstes die EU-Kommission dazu bringen, aktiv zu werden. Beim Thema Gentechnik ist das im Frühjahr 2022 bereits gelungen: Die Interessensverbände haben es geschafft, dass die EU-Kommission an einem Gesetzesvorschlag arbeitet. Ist der Verordnungsvorschlag fertig – vorgesehen ist dafür das vierte Quartal 2023 – geht er in erster Lesung an das EU-Parlament und an die im Ministerrat vertretenen EU-Mitgliedsstaaten. Stimmen beide der Vorlage ohne Veränderungen zu, ist sie angenommen. Bei Änderungvorschlägen gibt es in beiden Gremien eine zweite Lesung. Einigen sie sich nicht, tagt ein Vermittlungsausschuss. Kommt er zu keinem Ergebnis, ist der Vorschlag der Kommission abgelehnt. Bei einer Einigung müssen Parlament und Rat noch formell in einer dritten Lesung zustimmen.
Da dieses Mitentscheidungsverfahren langwierig ist, entstehen die meisten EU-Verordnungen und Richtlinien inzwischen im so genannten Trilog. Bei diesem abgekürzten Verfahren erarbeiten Parlament und Rat ihren Standpunkt zu einem Kommissionsvorschlag. Danach treffen sie sich zu dritt hinter verschlossenene Türen und zimmern aus den Standpunkten einen Kompromiss, den Parlament und Rat noch formell absegnen. Bürgerrechtsorganisationen kritisieren das Trilog-Verfahren als wenig transparent.
Centrum für europäische Politik: Gesetzgebung im Trilog - Das Ende der transparenten repräsentativen Demokratie? (2015)
Das jetzige Gentechnikrecht der EU entstand Anfang des Jahrtausends als Antwort auf die damals auf den Markt drängenden gentechnisch veränderten Pflanzen. Es regelt deren Freisetzung zu Versuchszwecken und verlangt vor einer kommerziellen Vermarktung gentechnisch veränderter Organismen (GVO) ein Zulassungsverfahren, in dem die Risiken des GVO für Gesundheit und Umwelt überprüft werden. Kommen Lebensmittel mit zugelassenen GVO auf den Markt, müssen diese gekennzeichnet werden.
Mehr dazu im Grundlagentext Gesetzeslage
Bei den bisherigen Gentech-Pflanzen wurden artfremde Gene in das Erbgut eingebaut. Mit neuen gentechnischen Verfahren können vorhandene Gene des Erbguts abgeschaltet oder umgebaut werden. Damit tauchte die Frage auf, ob auch derart veränderte Pflanzen unter das EU-Gentechnikrecht fallen. Der Europäische Gerichtshof beantwortete diese Frage im Juli 2018 mit Ja und begründete dies mit dem Vorsorgeprinzip und den weitgehend unbekannten Risiken dieser neuen Verfahren.
Gleich nach dem Urteil forderten gentechnikbegeisterte Wissenschaftler, Unternehmen und Politiker, das EU-Gentechnikrecht zu ändern und neue gentechnische Verfahren auszunehmen – sofern sie keine artfremdes Erbgut einbringen. Sie begründeten dies damit, dass sich mit diesen Verfahren nachhaltige Pflanzen herstellen ließen, die widerstandsfähig gegen Krankheiten und extreme Klimabedingungen seien. Dadurch ließen sich Pestizide verringern und die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sichern. Diese Pflanzen müssten schnell auf den Markt kommen. Doch das derzeitige Recht mit seinen aufwändigen und langen Zulassungsverfahren sowie der anschließenden Kennzeichnungspflicht verhindere dies.
Max-Planck-Gesellschaft: Wissenschaftler fordern Modernisierung des europäischen Gentechnik-Gesetzes (25.07.2019)
Gentechnikkritische Organisationen und Unternehmen argumentierten, dass mit den neuen Verfahren in einer bisher nicht dagewesenen Tiefe in das Erbgut und die Steuerung der Gene eingegriffen werde. Dabei komme es – wie viele Studien inzwischen gezeigt hätten – zu ungewollten Veränderungen im Erbgut. Und zwar sowohl am Ort des Eingriffs selbst (sogenannte On-Target-Effekte) als auch an entfernteren Stellen im Erbgut (Off-Target-Effekte). Sowohl durch die Eingriffe selbst als auch durch die dabei auftretenden Veränderungen entstünden neue Risiken. Sie müssten gemäß dem Vorsorgeprinzip geprüft werden, bevor solche Produkte auf den Markt kommen dürfen. Dafür biete das bestehende Gentechnikrecht einen guten Rahmen, der eher noch ausgebaut werden müsste statt ihn abzuschaffen.
Testbiotech: Warum die Neue Gentechnik strikt reguliert werden muss (Oktober 2020)
In der EU hat ausschließlich die EU-Kommission das Recht, Verordnungen oder Richtlinien zu erarbeiten. Direkt nach dem EuGH-Urteil zeigte sich die damalige Kommission wenig motiviert, aktiv zu werden. Ihre Amtszeit lief im Sommer 2019 aus und die EU-Mitgliedsstaaten waren beim Thema Gentechnik seit Jahren gespalten. Eine Mehrheit stand der bisherigen Agro-Gentechnik kritisch gegenüber, eine Minderheit befürwortete ihren Einsatz. In der Praxis führte dies dazu, dass die Mitgliedsstaaten bei diesem Thema oft entscheidungsunfähig waren. Die Mehrheit des EU-Parlaments ist gentechnikkritisch eingestellt.
Die neue EU-Kommission war gerade erst im Amt, als die Gentechnikbefürworter unter den Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat einen Beschluss durchsetzten, mit dem die Deregulierungsdebatte Fahrt aufnahm. Der Rat ersuchte die Kommission „eine Untersuchung im Lichte des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache C-528/16 zu dem Status neuartiger genomischer Verfahren im Rahmen des Unionsrechts zu unterbreiten“. Der Beschluss: Bis Ende April 2021 sollte die Studie vorliegen. Zudem sollte die Kommission einen Vorschlag für das weitere Vorgehen und dafür eine Folgenabschätzung vorlegen. Die Kommission machte sich an die Arbeit, die Lobbyisten auch.
Die Interessenvertreter von Gentechnikkonzernen und Agrarindustrie hatten schon seit dem Urteil des EuGH verstärkt auf die Kommission eingewirkt. Dies zeigten Unterlagen, die die Lobby-Kontrolleure von Corporate Europe Observatory (CEO) Ende März 2021 vorlegten. Sie berichteten von Strategietreffen von Lobbyisten mit handverlesenen Beamten aus nationalen Ministerien, von einer Denkfabrik, die gezielt mit Geldern der Gates-Stiftung Stimmung für klimafreundliche Gentechnikpflanzen machte und vom Mailverkehr zwischen Lobbyverbänden und EU-Beamten. Die Akten seien „ein gutes Beispiel für die typische Echokammer, die mit Lobbykampagnen der Großindustrie einhergeht, bei denen Entscheidungsträger mehreren Stimmen ausgesetzt sind, die alle dieselbe Botschaft vermitteln“, schrieb CEO.
Für ihre Studie konsultierte die Kommission insgesamt 107 Organisationen. Drei Viertel von ihnen vertraten Interessen der Industrie, stellten die Umweltorganisationen Global 2000 und Friends of the Earth Europe in einer Auswertung fest, die sie ebenfalls im März 2021 vorlegten. Darin kritisierten sie auch, dass der Fragebogen für die Konsultation einseitig auf den möglichen Nutzen neuer gentechnisch veränderter Pflanzen ausgerichtet gewesen sei. Diskutiert hatte die Kommission diesen Fragebogen zu Beginn ihrer Konsultationen mit 94 Verbänden, von denen mehr als 70 Prozent die Interessen der industriellen Land- und Lebensmittelwirtschaft vertraten, wie CEO analysierte. Die Vertreter der gentechnikfreien Lebensmittelwirtschaft mussten sich quasi selbst einladen, weil sie nicht auf der Liste der Kommission standen.
Global 2000 schreibt, seit 2018 seien für die Lobbyarbeit zur Lockerung des EU-Gentechnikrechts mindestens 36 Millionen Euro aufgewendet worden. Da viele Konzerne unvollständige Angaben über ihre Ausgaben für Lobbyarbeit machen, liege die tatsächliche Zahl vermutlich deutlich höher. Darüber hinaus seien den Gentechnik-Lobbyisten von 2018 bis Ende 2020 182 Treffen mit EU-Kommissaren, deren Kabinetten und Generaldirektoren gewährt worden.
Die CEO-Auswertung
Die Crispr-Akten im Original
Global 2000: Wie sich die Gentech-Industrie EU-Gesetze zurechtbiegt
Als die EU-Kommission Ende April 2021 schließlich ihre Studie vorstellte, zeigte sich, dass die Arbeit der Lobbyisten Erfolg hatte. Zwar sprach die Kommission von einem ergebnisoffenen breiten Dialog, den sie führen wolle. Auch stellte die EU-Behörde die Standpunkte von Befürwortern und Gegnern neuer gentechnischer Verfahren in der Landwirtschaft dar. In ihrer Abwägung spielten jedoch vor allem zwei Behauptungen der Befürworter eine Rolle: Neue gentechnische Pflanzen seien gut für Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Eingriffe ins Erbgut, bei denen Punktmutationen erzeugt oder nur Gene einer Art übertragen werden, seien ebenso sicher wie herkömmliche Züchtung.
EU-Kommission: EC study on new genomic techniques (29.04.2021)
Infodienst Gentechnik: EU-Kommission will Regeln für neue Gentechnik diskutieren (29.04.2021)
Als nächsten Schritt stellte die Kommission im September 2021 einen Fahrplan für ihr Vorhaben vor, das Gentechnikrecht zu ändern. An der Konsultation beteiligten sich mehr als 70.000 EU-Bürger und Organisationen. Es folgte im Sommer 2022 eine weitere Konsultation. Anschließend ließ die Kommission ausgewählte Stakeholder für ihre Folgenabschätzung befragen. Zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft kritisierten, dass die Fragestellung der Kommission einseitig und voreingenommen sei. Vorgestellt wurden in dieser Befragung erstmals konkrete Szenarien, wie das Gentechnikrecht zugunsten von neuen Gentechniken (NGT) umgestaltet werden könnte. Die weitestgehenden sehen vor, Risikobewertung und Rückverfolgbarkeit ebenso abzuschaffen wie Kennzeichnungs- und Nachweispflicht. Die Kommission entgegnete der Kritik, sie werde erst über einen möglichen neuen Rechtsrahmen entscheiden, wenn die Folgenabschätzung abgeschlossen sei.
Der Zeitplan der EU-Kommission
Infodienst: EU-Gentechnik-Konsultation: Steht Ergebnis schon fest? (02.09.2022)
Infodienst: Deregulierung: Pläne der EU-Kommission für neues Gentechnikrecht werden konkreter (25.07.2022)
EU-Kommission/Technopolis Group: Targeted survey for the impact assessment of new legislation on New Genomic Techniques (Juli 2022)
Im April 2023 wurde bekannt, dass ein internes Kontrollgremium der Kommission, das Regulatory Scrutiny Board, die Folgenabschätzung der EU-Kommisison massiv kritisiert hat. Die Kommission habe nicht ausreichend geprüft und bewertet, wie sich ihre geplante Regelung für NGT auf das Vertrauen der Verbraucher:innen, den Biosektor, die Umwelt und die Gesundheit auswirken würden. Dennoch stellte die Kommission ihre NGT-Vorschläge am 5. Juli 2023 vor. Mit viel Zeitdruck versuchten die Befürworter:innen im Europaparlament und im Ministerrat zu Beschlüssen zu kommen, mit dem Ziel, die Kompromissverhandlungen im Trilog vor der Europawahl im Juni 2024 abzuschließen. Dies mißlang - die im Herbst 2024 antretende neue EU-Kommission muss entscheiden, ob sie den Vorschlag erneut aufgreift.
Infodienst: Neues Gentechnikrecht erst nach Europawahl? (23.04.2023)
Infodienst: EU-Kommission - ohne Pestizidreduktion keine neue Gentechnik (23.05.2023)
Infodienst: EU-Kommission will Genfood ohne Kennzeichnung auf den Tisch bringen (05.07.2023)
Infodienst: EU-Staaten uneins über neue Gentechnik-Verordnung (21.11.2023)
Stand Ende März 2024